Emergenz

Ist das, was wir sehen, geplant?

Unternehmen entwickeln sich über die Zeit. Häufig lassen sich klare Bewegungsmuster erkennen. Manche der Bewegungen sind positiv, andere negativ für das Unternehmen. Je nachdem sagen wir, dass die Strategie des Unternehmens gut oder weniger gut funktioniert hat. Dabei gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass die vollzogenen Unternehmenshandlungen geplant und kontrolliert waren.

Wo zeigt sich die Planung?

Wenn wir stattdessen die soziale menschliche Dimension beachten, werden wir mit einer hohen Komplexität konfrontiert. In unseren Blick gerät dann, wie die Mitarbeiter des Unternehmens in unzähligen und miteinander verwobenen Gespräche, Meetings und Arbeitsaktivitäten jeden Tag interagieren. Wenn wir dieses Gewirr an Handlungen sehen, dann erscheint es ziemlich abwegig zu glauben, dass diese in ihrer Gesamtheit geplant sind oder sich überhaupt jemals planen ließen. Wie aber passt diese zweite Beobachtung zur ersten?

Eine irritierende Schlussfolgerung

Der Soziologe Norbert Elias hat die Entwicklung von Gesellschaften und sozialen Gruppen untersucht und sich dabei dieser Fragestellung gewidmet. Er kommt zu einer irritierenden Schlussfolgerung. Danach produzieren die vielen lokalen Interaktionen der Menschen die geordnete Bewegung des Ganzen. Dieses Phänomen wird in der Komplexitätstheorie als ‚Emergenz‘ bezeichnet. Das heißt, was das Unternehmen als Ganzes tut, kann von niemanden, keinem Einzelnen und keiner einzelnen Gruppe, geplant und kontrolliert werden. Das Handlungsergebnis entsteht vielmehr aus den nicht gänzlich kontrollierbaren Interaktionen aller Beteiligten.

Dieser Gedanke ist für viele unverständlich. Sie klammern sich an die Vorstellung, dass das Management die Handlungen des Unternehmens planen und kontrollieren kann. Doch wie wir es auch drehen, es ist nicht möglich – aufgrund der Komplexität der sozialen Welt. Diesen Punkt wollen wir im Folgenden etwas ausführen.

Aus der Sicht sozialer Prozesse gibt es keine Position außerhalb

Das Bild von der Unternehmensführung als ‚Designer’ ihres Unternehmens beruht auf der Vorstellung, sie könne außerhalb der Organisation stehen und diese wie ein Ding gestalten. Der Managementprofessor Ralph Stacey erläutert, dass dieses Bild irreführend ist. Es gibt keine Position außerhalb, von der aus Manager ihr Unternehmen betrachten und gestalten können. Stattdessen sind sie in soziale Prozesse verwoben wie jeder andere Mitarbeiter. Was immer sie erreichen wollen, sie müssen es gemeinsam mit anderen erreichen, von denen jeder eigene Absichten hat und eigene Entscheidungen trifft.

Was das Management kontrollieren kann, sind Körper

Aber zeigt die Praxis nicht, dass das Management sehr wohl viel Entscheidungsmacht und Kontrolle hat? Um dieser Frage nachzugehen, ist die Arbeit des Historikers und Sozialtheoretikers Michel Foucault äußerst hilfreich. Was wir lernen ist, dass Führungskräfte tatsächlich erhebliche Kontrolle ausüben: durch disziplinarische Macht. Allerdings, was sie dabei kontrollieren, sind Körper. Sie können Mitarbeiter hin- und herschieben, Gruppen aufteilen oder zusammenführen, ein gewisses körperliches Verhalten erzwingen. Diese Art der Kontrolle ist möglich. Doch das große Ganze entzieht sich jedem kontrollierenden Zugriff.

Kontrolle und Beherrschung werden unterlaufen

Der letztgenannte Punkt wird von dem Anthropologen James C. Scott anschaulich erklärt. Scott zeigt, dass Menschen, die diszipliniert und beherrscht werden, oft beginnen, Widerstand auszuüben. So kann das Management zwar bis zu einem gewissen Grad kontrollieren, was Mitarbeiter in offiziellen Runden sagen und tun. Aber woran sie glauben, was ihnen wichtig ist und was sie insgesamt tun, ist jenseits der Managementkontrolle. Sehr wohl können die Mitarbeiter auf gleicher Linie mit ihrem Management sein. Aber auch das ist etwas, was entsteht. Niemand kann einen solches Ergebnis planmäßig und kontrolliert herstellen.

Die Suche nach Orientierung

Warum aber führen die vielen Interaktionen der Mitarbeiter des Unternehmens dann nicht zu Chaos und Unordnung?

Der Grund dafür liegt darin, dass die Menschen etwas Sinnvolles tun wollen und gleichzeitig in ihren Aktionen voneinander abhängig sind. Daraus entstehen mehr oder weniger koordinierte Bewegungen. In diesen Bewegungen suchen die Menschen nach Orientierung. Strategie, Mission und Vision sind also ohne Zweifel wichtige Themen. Wir müssen lediglich beachten, dass eine gemeinsame Strategie oder Vision, für die sich viele im Unternehmen einsetzen, das Ergebnis andauernder komplexer Verhandlungsprozesse zwischen allen Beteiligten sind.

Was die Frage der gemeinsamen Orientierung betrifft, gibt es ein weiteres, kraftvolles Konzept: Identität.